10.09.2021

9 ANTWORTEN – WANN UND WARUM DEHNEN?

Dehnen kann die Beweglichkeit verbessern, die Muskeln geschmeidiger machen und kurzfristig gegen Verspannungen helfen. Das ist sicher, mehr nicht! 

Egal wo man hinsieht, in Fitnessstudios, VHS-Kursen oder Sportvereinen, sogar in Artikeln, Büchern oder Fernsehen, bekommt man so gut wie immer den Rat, das Dehnen nach dem Sport oder Krafttraining nicht zu vergessen. Das Dehnen soll die Erholung beschleunigen, Muskelkater verhindern und Verletzungen vorbeugen.

„Alles Quatsch“, sagt dagegen Professor für Bewegungswissenschaft Dr. Jürgen Freiwald, ein viel zitierter und anerkannter Experte im Bereich „Dehnen“ von der Bergischen Universität Wuppertal. „Wissenschaftliche Studien­ stützen diese Be­hauptungen überhaupt nicht.“

Hier werden die einzelnen Dehnlügen unter die Lupe der Wissenschaft genommen.

 

1. Beweglichkeit verbessern?

Klares Ja! Dehnen kann die Beweglichkeit deutlich verbessern und erhalten. Weitere Möglichkeiten die Beweglichkeit zu steigern sind Faszienbehandlungen wie Massagen, Foam Rolling oder auch durch ein Krafttraining mit vollem Bewegungsausmaß, dem sogenannten Full Range of Motion (ROM) Training.

Verbessert sich die Beweglichkeit bei regelmäßigem Dehnen und Stretchen nicht, verspannt sich der Muskel immer wieder, muss man davon ausgehen, dass eine muskuläre Dysbalance besteht (Freiwald, 2009). Dabei versucht ein Muskel die Aufgabe eines anderen zu übernehmen, ist dadurch überfordert und in der Folge auf Dauerspannung. Diese Verspannungen kann Stretching allein nicht beheben, doch es kann die Beschwerden oft lindern und erleichtert die Arbeit an den tiefer liegenden Ursachen. Diese müssen durch spezielle Test gefunden werden. Meistens liegt das Problem in einer Fehlfunktion oder Abschwächung der Synergisten und Antagonisten der verspannten Muskulatur.

 

2. Dehnen nur im „aufgewärmten“ Zustand?

Ja! Allerdings muss die Muskulatur nicht zwangsweise klassisch über das Herz-Kreislauf System erwärmt werden. Eine überlegene und einfache Möglichkeit das Gewebe auf Dehnungen vorzubereiten, ist es, mithilfe einer Faszienrolle (Foam-Roller) auszumassieren! So werden Knoten gelöst und sowohl die Muskulatur als auch das Bindegewebe geschmeidig gemacht.

Knoten oder Triggerpunkte in der Muskulatur sind vergleichbar mit einem Knoten in einem Gummiband. Wenn man das Band auseinander zieht, festigen sich die Knoten nur noch mehr.

Ein Beispiel aus der Praxis:

Michael Boyle, einer der erfolgreichsten amerikanischen Konditionstrainer der Topligen, beginnt alle seine Trainingseinheiten mit:

  • Foam rolling (Massageroller)
  • Statischem Dehnen
  • Dynamische Aktivierung

Er trainiert bereits seit 11 Jahren eine Fußballmannschaft ohne einen einzigen Kreuzbandriss.

 

3. Dehnen bei Verspannungen?

Ja, wem es gut tut! Dehnen kann langfristig die Ruhespannung des Muskels nicht reduzieren, sondern erhöht sie sogar in den meisten Fällen (Klee, 2003). Trotzdem können aktive Dehnmethoden z. B. bei Nackenverspannungen oder Rückenschmerzen kurzzeitig durchaus Erleichterung bringen. Die Ursache ist dadurch jedoch in den seltensten Fällen behoben. Die Verspannungen bzw. die erhöhte Spannung in der Muskulatur ist ein Schutzmechanismus und wird sich ohne weitere Maßnahmen schnell wieder einstellen.

Auch wenn der wissenschaftliche Beweis für die entspannende Wirkung fehlt, kann der subjektiven Empfindung gefolgt werden: Wem dehnen subjektiv hilft, der soll es auch tun! Um langfristig Schmerzen in Rücken und Nacken vorzubeugen, muss allerdings zusätzlich ein gezieltes Krafttraining durchgeführt werden (Wiemann et al. 1998).

 

4. Dehnen beugt Verletzungen vor?

Ja, wenn starke Bewegungseinschränkungen bestehen! Spezifisches Dehnen begleitend zu einem Krafttraining kann vor Verletzungen schützen, wenn es so fundamentale Bewegungseinschränkungen beseitigt. Der amerikanische Sportmediziner Dr. Knapik und Kollegen konnten in 2 Studien zeigen, dass z. B. ein links-rechts Unterschied in der Hüftstreckung größer als 15%, das Verletzungsrisiko um das 2,6 fache bei Sportlern erhöht. In weiteren Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass grundsätzlich alle links-rechts Asymmetrien das Verletzungsrisiko deutlich erhöhen. Insofern kann das gezielte Dehnen, durch das Symmetrie und Ausgleich geschaffen wird, durchaus das Verletzungsrisiko bei gefährdeten Personen reduzieren (Knapik et al. 1991, 1992)

Grundsätzlich gefährdet sind z. B. Bürotätige, da durch die sitzende Alltagsposition die Hüftbeugende Muskulatur fast immer „verkürzt“ ist bzw. die Hüftstreckung eingeschränkt ist. Vor allem beim Sprinten, Laufen und auch Gehen (immer wenn das Bein hinter das Körperlot gebracht wird) führt dies zu einem Ausweichen ins Hohlkreuz. Das kann auf Dauer zu Verletzungen und Schmerzen führen.

Vor dem Sport, nein! Vor dem Sport schützt keine der klassischen Dehntechniken vor Verletzungen, das hat erst im März ­eine Forschergruppe des American College of Sports Medicine durch ­eine Analyse der wich­tigs­ten Studien erneut bestätigt. „Trotzdem ist das letzte Wort zu diesem ­Thema wohl noch nicht gesprochen“, so Freiwald. Denn in den Studien gibt es sys­tema­tische Fehlerquellen. So wurden oft alle Verletzungen gezählt – auch solche, die Dehnen gar nichts zu tun haben (z. B. durch einen Tritt in die Ha­cken). Unbeachtet blieb auch, ob sich die Probanden korrekt aufgewärmt haben. „Das ist nämlich zur ­Vermeidung von Verletzungen das Wichtigste“, meint Freiwald. Zudem wurden neuere dynamische Dehnmethoden und Flexibilitätsübungen, wie z.B. „Movement Preps“, „Active Isolated Stretching“ oder Yoga-Übungen, in diesem Zusammenhang bisher nicht untersucht.

Wer allerdings unmittelbar vor dem Sport passiv-statisch dehnt ohne eine anschließende Aktivierungsphase, geht definitiv ein höheres Risiko ein sich zu verletzen, da die Gelenkstabilisierung für kurze Zeit verschlechtert ist. Für den Kraft- und Fitnesssport hat dies jedoch keinen Einfluss.

 

5. Dehnen nach Sport und Krafttraining verhindert Muskelkater?

Definitiv nein! Freiwald: „Intensives Stretching nach sportlichen Tätigkeiten kann den Muskelkater sogar verstärken.“ Für die Regeneration muss die Durchblutung gefördert werden, also z. B. durch Sauna, sanfte Massagen oder Wechselduschen. Statisches Dehnen bewirkt genau das Gegenteil. Die Durchblutung des Muskels wird bereits ab einem Dehnreiz von 30% deutlich verschlechtert da die Gefäße komprimiert werden.

Als Beweis ließ Freiwald 78 Probanden 150 anstrengende Streck-Hock-Sprünge machen. Ein Viertel von ihnen dehnte danach die belasteten Muskeln statisch, ein Viertel dynamisch (mit Nachfedern), ein Viertel musste eine Weile lo­cker laufen, das restliche Viertel legte sich einfach hin und tat gar nichts. Danach wurde die ­Ent­spannung der Muskeln gemessen und die Laktatwerte im Blut. ­Ergebnis: Wie befürchtet, verzögerte statisches Dehnen den Laktatabbau und da­mit die Erholung des Muskels. Dynamisches Dehnen hatte zwar keinen negativen Effekt, brachte aber auch nichts. Nur das Auslaufen wirkte positiv auf die Regeneration!

 

6. Dehnen vor Sport und Krafttraining lindert den Muskelkater?

Nein! Auch Dehnen vor der ­Be­las­tung verhindert den Muskel­kater nicht, das haben Ver­suche ge­zeigt, bei denen Sportler ein Bein dehnten und das andere nicht. Muskel­kater hatten sie nach dem Training entweder beid­seitig oder gar nicht (High et al. 1998).

 

7. Den Muskel in der Serienpause dehnen?

Nein! Die Muskulatur, die trainiert wird, in der Serienpause zu dehnen, ist schlichtweg völliger Blödsinn. Den Muskel zuerst maximal zusammenziehen und dann wieder auseinanderreißen? Nein, das ist gefährlich! Nach ausbelastenden Sätzen bleiben Kontraktionsrückstände (noch kontrahierte Muskelfasern), die durch Dehnen nicht ohne Schädigung gelöst werden können. Die angebliche Begründung, dass sich Muskeln beim Training verkürzen und durch das Stretching wieder verlängern – ist außerdem falsch. Die Länge ­eines Mus­kels ist genetisch festgelegt und an die Länge des Kno­chens angepasst. Zudem bringt in der Serienpause weder statisches Dehnen noch Mobilisationen z. B. Armkreisen irgendeinen Leistungsvorteil für den folgenden Satz, sondern verringert noch die Leistung (Thienes, 2003).

 

8. Dehnen hilft bei Muskelkater?

Nein! Die Schmerzen eines Muskelkaters können durch Dehnen nicht reduziert werden, sondern nehmen durch zu hohe Intensität noch Schaden. Allerdings kann sehr sanftes Dehnen helfen ­einen Reiz zu setzen, der bei Muskelkater, aber vor allem in der Rehabilitation von Muskelfaser­rissen, Zerrungen und Operationsnarben, den korrekten Wiederaufbau der Muskelstrukturen beschleu­nigt. Eine lockere Bewegung bzw. sehr sanfte Belastung des Muskels in Form von Ausdauersport lässt die Fasern auch korrekt ausrichten und reduziert dazu noch die Schmerzen durch die bessere Durchblutung.

 

9. Dehnen steigert die Leistung?

Nein! Dehnen vor dem Training oder Wettkampf verbessert die Leistungsfähigkeit nicht. Im Gegenteil, in vielen Studien verringerte das passiv-statisches Dehnen die Maximalkraft um 4-20% und die Schnellkraft fiel zwischen 3-10% (Avela et al., 1999). Als Folge davon wird man z. B. bei Sprints oder Richtungswechseln langsamer werden. Thienes (2003) zeigte außerdem, dass sowohl passiv statisches Dehnen als auch eine Mobilisation in der Serienpause einen negativen Einfluss auf die Kraftausdauer hatte.

Im Vergleich konnte allerdings gezeigt werden, dass dynamisches Dehnen keinen negativen Einfluss auf die Maximal- und Schnellkraftleistung hat (Begert & Hillebrecht, 2003). Durch aktiv-dynamisches Dehnen werden zudem die Muskeln, Sehnen und Bänder über den vollen Bewegungsumfang aktiviert. Wenn individuelle Bewegungseinschränkungen bestehen oder eine Sportart mit hohen Flexibilitätsanforderungen betrieben wird, sollten daher primär aktiv-dynamische Dehnmethoden z. B. „Movement Preps“ verwendet werden.

 

Soll ich mich jetzt dehnen oder nicht?

Wer keine Probleme oder Schmerzen hat und keine Veränderung seiner sportlichen Tätigkeit anstrebt, muss sich auch nicht dehnen. „Man kann guten Gewissens auch ohne Dehnungen durch das (sportliche) Leben kommen“ sagt Prof. Dr. Jürgen Freiwald.

Dehnen wird folgenden Sporttreibenden empfohlen:

  • Sportler, die Bewegungseinschränkung haben und dadurch bei elementaren Tätigkeiten bzw. bei ihrer Sportart (z. B. beim Bücken oder Laufen) Ausweichbewegungen machen. Bewegungstests wie z.B. der Functional Movement Screen (FMS) überprüfen, ob Einschränkungen bestehen oder es zu Ausweichbewegungen kommt. Frag hierzu Deinen Trainer!
  • Sportlern in Sportarten, die ein sehr hohes Maß an Beweglichkeit erfordern (z. B. Turner, Kampfsportler, usw.).
  • Sportler mit links/rechts Asymmetrien
  • Sportler, bei denen manchen Muskelgruppen sehr beweglich und andere wiederrum sehr steif sind (Dysbalance) – z. B. übermäßige Beweglichkeit im hinteren Oberschenkel, bei gleichzeitiger eingeschränkter Beweglichkeit der Adduktoren.
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